Vorfahrt für Bildung – so hieß es unisono aus politischen Kreisen: An ihre Versprechen fühlt sich die Politik heute nicht mehr gebunden. In Berlin wird es keine Öffnungen von Schulen geben. Inzidenzunabhängig bleiben die Schulen bis zu den Sommerferien im Wechselunterricht, und Familien sollen weiter das Unmögliche schaffen: Neben dem Beruf die Arbeit von geschulten Pädagogen adäquat leisten. In jedem anderen Lebensbereich wird in Berlin geöffnet, wenn die Fallzahlen sinken. Dass Kinder, die wir eigentlich schützen sollten, seit Monaten die Hauptlast der Einschränkungen tragen, dass ihre physische und psychische Gesundheit und ihre Entwicklungschancen schwer gelitten haben und sie dringend Schritte hin zu mehr Normalität in ihrem Leben und beim Lernen benötigen, ist offenbar in Vergessenheit geraten.
Der Sommer naht, die Lage in den Intensivstationen mit COVID-19-Patienten entspannt sich deutlich, die Impfquote steigt, die Meldeinzidenzen sinken und Berlin plant, wie andere Bundesländer, Öffnungen von Außengastronomie, Museen, Theatern und Freibädern. Nur die Schulen sollen weiter bis auf Rumpfunterricht in einigen Kernfächern an der Hälfte der regulären Tage geschlossen bleiben, mindestens bis zu den Sommerferien, und zwar unabhängig von der weiteren Entwicklung der Infektionen. Darauf hat sich der Berliner Senat jetzt schon festgelegt – verkündet in einem Schreiben an die Schulleiterinnen und Schulleiter vom 14. Mai. Die Begründung: Planungssicherheit und Kontinuität der schulischen Organisation absichern.
Offenbar müssen wir den Berliner Senat daran erinnern, dass das Recht auf Bildung in der Berliner Verfassung verankert ist. Das ist gewahrt, wenn Kinder fünf Tage in der Woche in der Schule sein können und volle Kraft voraus mit ihren Lehrerinnen und Lehrern, ihren Erzieherinnen und Erziehern und mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zusammenarbeiten, lernen, Sport treiben, musizieren und Projekte planen – in Haupt- und Nebenfächern. Wissensvermittlung auf Kernfächer zu reduzieren und die Hälfte der Zeit in die Familien zu verlagern, ist eine massive Beschneidung dieses Rechts. Viele Eltern arbeiten seit Monaten nachts, um ihre Kinder tagsüber zu beschulen und das in einer Situation, in der Viele um ihre berufliche Zukunft und ihre wirtschaftliche Existenz bangen müssen. Das letzte, was sie und ihre Kinder brauchen, ist Kontinuität dieser Organisation.
Vielleicht helfen einige Beispiele aus dem Ausland: Der britische Premierminister hat Anfang März bei einer Meldeinzidenz und Impfquote, die der jetzigen Situation in Berlin entspricht, Schulen vollständig geöffnet, mit freiwilligen Tests und ohne Maskenpflicht in Grundschulen. Seither fallen die Fallzahlen kontinuierlich, auch unter ungeimpften Kindern. Die französische Regierung hat wegen ihrer herausragenden Bedeutung für Kinder und Jugendliche die Schulen den ganzen Winter offen gehalten und lediglich bei einer extrem hohen Auslastung der Intensivkapazitäten die Osterferien um einige Tagen verlängert. Anstatt sich an diesen ermutigenden Beispielen zu orientieren, will die Senatsverwaltung in völliger Umkehrung der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Europäischen Behörde für Krankheitsvorsorge und -kontrolle (ECDC), ausgewiesener Fachexpert:innen der Kinder- und Jugendmedizin, -psychiatrie und Epidemiologie und ihrer eigenen Versprechen die Bildungs- und Entwicklungschancen von Kindern weiter hinter allem anderen hintanstellen.
Besonders schockierend erscheint uns an dem Schreiben der Senatsverwaltung, dass sie Umstellung auf den Normalbetrieb in Schulen zwar nicht erwägen will, wohl aber Änderungen vom wöchentlichen zum täglichen Wechsel zwischen Unterricht in der Schule und zu Hause, mit dem Ziel Kinder regelmäßiger zu testen. Liegt der Wert in der Anwesenheit von Kindern in der Schule nur noch im Testen und nicht in Wissensvermittlung und dem Erwerb sozialer Kompetenzen? Offenbar hat der Senat in den Aufregungen des Pandemiemanagements aus dem Auge verloren, dass oberstes Ziel von Testprogrammen die Sicherstellung möglichst uneingeschränkten Schulunterrichts ist.
Wir fordern den Senat dringend auf, dem Beispiel zahlreicher Nachbarländer zu folgen und jetzt die Schulen in Berlin vollumfänglich zu öffnen, und zwar mit Regeln und in einer Atmosphäre, in der sich Kinder in der Schule willkommen fühlen können. Nur so kann ein Anfang gemacht werden, den Beschränkungen der Entwicklungschancen unserer Kinder und den Belastungen ihrer physischen und psychischen Gesundheit etwas entgegenzusetzen. Das duldet keinen weiteren Aufschub.
Wer wollte es verantworten, dass das gesamte erwachsene Berlin sich in Biergärten, Museen und Theatern von den Strapazen der vergangenen Monate erholt, während vor den Schulen jeden Tag für die Hälfte der Kinder ein Schild steht mit der Aufschrift: „Wir müssen leider draußen bleiben.“?