Stand: April 2021
Wie geht es Kindern und Jugendlichen in der Pandemie? Welche Folgen haben dauernde Kita- und Schulschliessungen, der Wegfall von Sport und anderen Freizeitangeboten und Kontakteinschränkungen für die Jüngsten? Was sind die „Kollateralschäden“, von denen häufig die Rede ist und vor denen zahlreiche Expert:innen warnen?
Studien existieren in vielen Bereichen noch nicht. Denn gerade die Folgen von z.B. fehlender Bewegung oder zu viel Bildschirmzeit sind langfristig zu betrachten. Auch vieles, was den Verlust an Bildung angeht, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Deshalb haben wir hier eine Mischung aus Studien und Einschätzung von diversen Expert:innen zusammengetragen.
Für uns sollte deshalb bei allen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, die es ohne Zweifel braucht, die Frage im Mittelpunkt stehen: Sind die positiven Auswirkungen der Maßnahme stärker als die negativen Begleiteffekte? Und kann der positive Effekt nicht auch durch eine mildere Maßnahme mit weniger „Nebenwirkungen“ erreicht werden. Ebenfalls ist für uns klar: Die Hauptlast der Pandemiebekämpfung müssen die Erwachsenen tragen.
Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen
Copsy Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE)
Befragt wurden mehr als 1.000 Kindern und 1.600 Eltern. Die befragten Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 17 haben selbst geantwortet, für die 7- bis 10-Jährigen haben die Eltern die Online-Fragebögen ausgefüllt. Die Befragung fand von Mitte Dezember 2020 bis Mitte Januar 2021 statt (also kurz nach Kita-/Schulschließung in der zweiten Welle). Eine erste Befragung wurde im Juni 2020 durchgeführt.
- 85 Prozent der Kinder und Jugendlichen fühlen sich ziemlich / äußerst belastet (Vergleich Juni 2020: 71 Prozent)
- Fast jedes dritte Kind leidet unter psychischen Auffälligkeiten.
Mehr unter: https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html
Einschätzung vom Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten bvvp (Januar 2021)
„Der bvvp hat in einer Online-Befragung im Zeitraum von Mitte Dezember 2020 bis Mitte Januar 2021 über 10.000 Antworten von knapp 400 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen, Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und Kinderärztinnen erhoben und ausgewertet. Damit liegen Daten von den Behandlerinnen von geschätzt mehr als 10.000 Kindern und Jugendlichen vor, die ein alarmierendes Bild von deren Belastungen in der Corona-Pandemie zeichnen: Viele Kinder und Jugendliche haben verstärkt Ängste, sie befassen sich vermehrt mit dem Thema Tod, sind zunehmend Spannungen im häuslichen Umfeld durch Mehrfachbelastungen der Eltern ausgesetzt und erleben häufiger als zuvor häusliche Gewalt. Leistungsabfall und Versagensängste, Gewichtszunahme und der Wegfall stärkender Ressourcen wie Sozialkontakten zu Gleichaltrigen, Musik oder Sport im Verein aber auch von Angeboten der Jugendhilfe führen zu massiven psychosozialen Beeinträchtigungen bis hin zu psychischen Störungen. Die veränderten Belastungen haben zwar bei manchen Kindern und Jugendlichen Ressourcen aktiviert und sie motiviert, kreativ neue Wege zu beschreiten, doch scheinen viele nur schwer mit den Belastungen zurechtzukommen, so ein Ergebnis der Auswertungen des untersuchenden Kompetenzkreises.“
Offener Brief von rund 400 (Stand April) Psycholog:innen, Kinder- & Jugendlichenpsychotherapeut:innen und Kinder- & Jugendlichenpsychiater:innen
„In unserem beruflichen Alltag beobachten wir seit Pandemiebeginn einen Anstieg psychischer Belastung bei Kindern und Jugendlichen und Schwierigkeiten in der Versorgung: Bundeslandübergreifend zeigen sich in der kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Versorgung vermehrt Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen, Essstörungen, und Substanzmissbrauch. Zudem wird ein Anstieg von Patient:innen berichtet, die aufgrund von akuter Suizidalität/Krisen oder nach häuslicher Eskalation kinder- und jugendpsychiatrisch versorgt werden müssen. (…) In der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung hat die aktuelle Entwicklung zunehmend zur Folge, dass reguläre Behandlungen zugunsten von Kriseninterventionen aufgeschoben werden oder ausfallen müssen. Der Fokus liegt auf stark belasteten Kindern und Jugendlichen, so dass viele Patient:innen nicht hinreichend versorgt werden.“
Mehr dazu: https://offener-brief-kiju.de/wp-content/uploads/2021/03/Offener-Brief_KiJu_070321.pdf
Interview mit der Vorsitzenden des Verbandes der Schulpsychologinnen und Schulpsychologen Baden-Württemberg (LSBW), Nina Großmann, zu den Belastungen während der Schulschliessungen
„Die Schulpsychologen dringen mit Blick auf die wachsende Zahl von Schulverweigerern auf eine rasche Öffnung der Schulen nach dem Lockdown. Ein Viertel der Fälle in den 28 Beratungsstellen im Land sei derzeit auf dieses Phänomens zurückzuführen. Vor der Corona-Krise lag dieser Anteil bei etwa fünf Prozent.“
Mehr dazu: https://bnn.de/nachrichten/baden-wuerttemberg/schulpsychologen-fuer-fruehe-schuloeffnung
Auswirkungen auf das physische Wohlbefinden von Kindern
Vermehrte häusliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Zahlreiche Expert:innen, Beratungsstellen, Kinderärzt:innen und Psycholog:innen warnen vor vermehrter häuslicher Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Die oft familiär angespannte Situation in Kombination mit in Zeiten von Kita- und Schulschliessungen wegfallender Kontrollmechanismen und überlasteten Jugendhilfeeinrichtungen lässt eine höhere Dunkelziffer vermuten. Offizielle Studien und Zahlen sind kaum vorhanden, deshalb hier einige Erfahrungsberichte und Einschätzungen:
- 23 Prozent mehr Kindesmisshandlungen im ersten Halbjahr 2020 gegenüber dem Vorjahr in Berlin: https://www.rbb24.de/panorama/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/07/haeusliche-gewalt-lockdown-berlin-gewaltschutzambulanz.html
- Heidelberger Gewaltambulanz verzeichnet mehr häusliche Gewalt gegen Kinder: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/112606/Ambulanz-Coronakrise-verstaerkt-Gewalt-gegen-Kinderä
Schlechte Ernährung
Für einige Kinder ist das Mittagessen in Kita oder Schule die einzige warme und ausgewogene Mahlzeit des Tages. Gerade in der zweiten Welle haben einige Einrichtungen und Organisationen versucht, den Wegfall mit kreativen Ideen zu kompensieren. Dennoch deuten erste Studien darauf hin, dass es eine große Spanne gibt zwischen sich während der Zeit von Kita- und Schulschliessungen verbessernden und stark verschlechternden Ernährungsgewohnheiten gibt.
Forsa-Studie des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin und der Ludwig-Maximilians-Universität München:
- Gewichtszunahme bei 9 Prozent der Kinder in der ersten Welle.
- Weniger Bewegung bei 38 Prozent der Kinder
Mehr dazu: https://www.ekfz.tum.de/fileadmin/PDF/PPT__EKFZ_und_Forsa_Final2.pdf
Weniger Bewegung und Sport
In zahlreichen Studien und Befragungen von Kindern wird das Thema Sport und Bewegung thematisiert. Aufgrund des langanhaltenden Ausfalls des Schulsports, aber auch der Einstellung von Vereinssport während vieler Monate in der Pandemie, liegt ein erheblicher Bewegungsmangel bei vielen Kindern und Jugendlichen vor.
Medienkonsum und Computerspielsucht
Studie DAK / UKE Hamburg zu Computerspielsucht (Juli 2020)
- Im September 2019 zeigen zehn Prozent der 10- bis 17-Jährigen ein riskantes Spielverhalten. Pathologisches Gaming wird bei 2,7 Prozent festgestellt.
- Im Vergleich zum September 2019 steigt im Mai 2020 die Spieldauer in der Woche um 75 Prozent an.
- Im September 2019 zeigen 8,2 Prozent der befragten Kinder und Jugendliche eine riskante Nutzung von Social Media.
- Unter dem Corona-Lockdown steigen die Social-Media-Zeiten werktags um 66 Prozent an – von 116 auf 193 Minuten pro Tag. Gaming und soziale Medien werden vor allem genutzt, um Langeweile zu bekämpfen oder soziale Kontakte aufrecht zu erhalten. Rund ein Drittel der Jungen und Mädchen will online aber auch der „Realität entfliehen“ oder Stress abbauen.
Weitere Informationen dazu: https://www.dak.de/dak/bundesthemen/computerspielsucht-2296282.html
Bildungsverlust und zunehmende Chancenungerechtigkeit in der Bildung
Studie des ifo Instituts zu „Bildung erneut im Lockdown“ 2021
Bildungsforscher:innen des ifo-Instituts haben Anfang 2021 mehr als 2.000 Eltern zur Bildung ihrer Kinder während des zweiten Lockdowns befragt. Eine entsprechende Befragung gab es bereits im ersten Lockdown im Frühjahr 2020. Einige Ergebnisse:
- Im Durchschnitt haben die Schulkinder 4,3 Stunden pro Tag mit schulischen Tätigkeiten verbracht. Das ist eine knappe Dreiviertelstunde mehr als während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020, aber immer noch drei Stunden weniger als an einem üblichen Schultag vor Corona.
- Fast jedes vierte Kind (23%) hat sich nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit Schule beschäftigt.
- Ein Viertel (26%) der Schüler:innen hatte täglich gemeinsamen Unterricht für die ganze Klasse (z.B. per Video).
- 39% hatten nur maximal einmal pro Woche oder gar keinen Videounterricht oder vergleichbares.
- Für die Hälfte der Kinder war die Situation während der Schulschließungen eine große psychische Belastung – deutlich mehr als während der ersten Schließungen (38%).
- In 30% der Familien gibt es für die Kinder keinen eigenen Raum zum lernen, in 25% der Familien keine stabile Internetverbindung.
- Nur 28% der Eltern sind der Meinung, dass die Schulschließungen dem Kind mehr genutzt als geschadet haben.
- Knapp ein Drittel der Akademikerkinder (31%) haben seit den ersten Schulschließungen im März 2020 an Förderangeboten wie Nachhilfeunterricht oder Ferienkursen teilgenommen. Bei den Nicht-Akademiker-Kindern sind es nur 18 Prozent.
Hier die Details der Studie aus 2021: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2021-05-woessmann-etal-corona-schulschliessungen.pdf
Zu den Ergebnissen aus 2020c, veröffentlicht September 2020: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2020-09-woessmann-etal-bildungsbarometer-corona.pdf
iw-Studie „Bildungsgerechtigkeit“ vom Januar 2021
- Während der Schulschließungen wurde vor allem auf Aufgaben zurückgegriffen, die Schüler selbstreguliert erfüllen sollen. Selbstreguliertes Lernen erfordert Kompetenzen bei Schülern wie Selbststeuerung, Zeitma- nagement und Verantwortungsübernahme, Priorisierung der Aufgaben oder Sammeln von Lernmaterialien. Die notwendigen Strategien für dieses Arbei- ten müssen Kinder vermittelt bekommen (Ramdass/Zimmerman, 2011). Dies gehört jedoch bei den wenigsten Schulen in Deutschland zum Lehrinhalt. Kindern aus bildungsfernen Haushalten fällt diese Lernstrategie ohne vor- hergehende Anleitung besonders schwer (McGovern, 2016; Milner, 2014).
- Eine Befragung von Schülern der Klassen 11 und 12 an gymnasialen Oberstufen allgemeinbildender Schulen ergab, dass an einem typischen Homeschooling-Tag rund 37 Prozent der Schüler nur im Zeitumfang von unter zwei Stunden etwas für die Schule getan haben.
- Studien zu langen Schulunterbrechungen während der Sommerferien in den USA (Summer Gap) weisen darauf hin, dass gerade Kinder aus bildungsfernen Haushalten durch längere Phasen ohne institutionelles Bildungsangebot im Vergleich zu anderen Kindern deutlich in den gemessenen Bildungsleistungen zurückfallen (Karl et al., 2007).
- Geis-Thöne (2020c) zeigt auf Basis von Auswertungen der SOEP-Daten, dass der Anteil der Zuwanderer, die zu Hause nicht deutsch sprechen, umso höher ist, je jünger sie sind. (…) Insgesamt wirkt sich aber gerade bei Kindern aus Zuwandererhaushalten der Kita- und Grundschulbesuch stark positiv auf den Spracherwerb aus. Fehlt diese Sprachförderung, können anschließend die Defizite so gravierend sein, dass langfristige Bildungschancen beeinträchtigt werden (Anger/Geis-Thöne, 2018).
Alle Details (ab Seite 48 zum Thema Bildungsgerechtigkeit in Corona-Zeiten): https://www.ifo.de/DocDL/sd-2020-09-woessmann-etal-bildungsbarometer-corona.pdf
Auswertung „Folgekosten ausbleibenden Lernens“ des ifo Instituts (Juni 2020)
- Jedes Schuljahr an zusätzlichem Ler- nen erhöht das Lebenseinkommen im Durchschnitt um rund 10%. Dementsprechend würde beispielsweise ein Unterrichtsausfall, der einem Drittel eines Schuljahres an verlorenem Lernen entspricht, das spätere Erwerbseinkommen der betroffenen Schüler*innen um rund 3–4% verringern.
- Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen und lernschwache Schüler*innen mit der Phase des Zuhauselernens be- sonders schwer zurechtkommen. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Belastung drohen die Schulschlie- ßungen zu einer großen Belastung für die Chancen- gleichheit in der Bildung zu werden und die Ungleich- heit in unserer Gesellschaft zu vergrößern.
Zur Studie: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2020-06-woessmann-corona-schulschliessungen.pdf